Allemal ein Grund zum Tanzen

Kolumne

Sicher, Tanzen ist nicht jedermanns Sache, aber darum geht es im Kern ja auch gar nicht. Es geht um etwas viel Tieferes, Grundlegenderes. Uwe Heimowski schaut seit Jahrzehnten in die Augen von Menschen, die von großem Leid betroffen sind, und wird immer wieder gefragt, wie er das eigentlich aushält. Bei seiner Antwort hilft ihm die Geschichte eines Mannes, der meint, allemal Grund zum Tanzen zu haben. Gerade, wenn die Not am größten ist.

Als Referent für Menschenrechte habe ich bei Begegnungen im Bundestag fast jede Woche Geschichten gehört, die unter die Haut gingen. Folteropfer aus Eritrea schilderten die sadistischen Methoden während der Verhöre. Zwangsprostituierte fanden nur stockend Worte für den jahrelangen Missbrauch durch Zuhälter und Freier. Ich bin durch Slums in Mumbai und Nairobi gelaufen, habe Flüchtlingscamps im Irak und auf Lesbos besucht. Man glaubt nicht, unter welchen Bedingungen Menschen leben müssen und was Menschen anderen Menschen antun können, bis man es aus dem Mund der Betroffenen hört oder es selbst vor Ort miterlebt. Das lässt einen nicht so schnell los. Mittlerweile leite ich ein christliches Hilfswerk. Unser Motto bei Tearfund lautet: „Wir helfen da, wo die Not am größten ist“. Mit anderen Worten: Auch in dieser Tätigkeit kann man nicht wegschauen, sondern wird regelmäßig mit den Geschichten von Hunger, Elend und Gewalt konfrontiert.

Er hatte keine Chance

Dazu möchte ich von einer Begegnung erzählen, die schon einige Jahre zurückliegt. Damals nahm ich an einer Konferenz in der Schweiz teil. Zu den Referenten gehörte Emmanuel, ein junger Mann aus Ruanda, ein Tutsi, der den Völkermord von 1994 überlebt hatte. Er erzählte seine Geschichte. Das Morden war in vielen Gegenden bereits in vollem Gange, doch hatten seine Eltern zu spät realisiert, dass es auch sie persönlich betreffen könnte. Bis die Mörder vor dem Dorf standen und an Flucht nicht mehr zu denken war. Eine grausame geschichtliche Parallele zu vielen jüdischen Familien während der Nazizeit in Deutschland. Wahrscheinlich ist es ein Reflex der menschlichen Seele, Gefahren zu verdrängen, solange es irgend geht. Andererseits: Wohin hätte Emmanuels Familie auch fliehen sollen? Der Genozid breitete sich aus wie ein Flächenbrand. Als die Mörder kamen, versteckten sie sich im Haus und den Büschen ringsum. Die Hutu gingen von Hütte zu Hütte. Man hörte, wie sie ihre Macheten über den Boden schleifen ließen, ein furchterregendes, sadistisches Geräusch. Emmanuel und sein Bruder versteckten sich unter dem Bett. Die Eltern traten den Mördern entgegen und wurden kurzerhand erschlagen. Die Jungen erstarrten, als sich die Tür öffnete und ein Hutu eintrat. Er schaute sich kurz um und blickte natürlich auch unters Bett. Er sah einen Rücken, zückte seine Machete und stach mehrmals zu. Tränen traten Emmanuel in die Augen, als er weitererzählte: „Mein Bruder lag vorne. Die Machete traf ihn in den Rücken und zerfetzte seine Organe. Er hatte keine Chance. Ich lag hinter ihm, der Mörder konnte mich nicht sehen. Erst als alles ruhig war, kletterte ich – blutverschmiert – aus dem Versteck.“ Emmanuel hatte als Einziger aus seiner Familie überlebt.

„Wahrscheinlich ist es ein Reflex der menschlichen Seele, Gefahren zu verdrängen, solange es irgend geht.“

Das Grauen überlebt

Später engagierte Emmanuel sich in der Wahrheitskommission und wirkte am Versöhnungsprozess mit. Wie kann man eine solche Stärke finden, nach diesen Erlebnissen? Am Abend der Konferenz feierten wir einen intensiven Lobpreisgottesdienst. Die Band auf der Bühne brachte Schwung in die Lieder. Arme gingen nach oben, viele sangen mit, und Emmanuel tanzte ausgelassen und fröhlich zur Musik. Der nächste Tag begann mit einer Talkrunde, einer der Interviewgäste war Emmanuel. Vorsichtig fragte die Moderatorin: „Du hast so viel Schreckliches erlebt und hast beim Gottesdienst so fröhlich getanzt. Das verstehe ich nicht. Wie schaffst du das?“ Er lächelte sie an: „Darf ich mit einer Gegenfrage antworten?“ „Natürlich.“ „Wenn ihr das alles nicht erlebt habt, was ich erfahren musste, warum tanzt ihr nicht?“ In diesem Moment war es mucksmäuschenstill im Saal, und jeder wusste, dass er recht hatte. Uns geht es gut. Wer in Deutschland oder der Schweiz muss sich Sorgen um seine persönliche Sicherheit machen? Der globale Norden hat so viel Geld und Ressourcen, soziale Sicherungen, ein funktionierendes Gesundheitssystem. Und doch regiert uns so häufig die Angst. Dieser Mann hatte das Grauen überlebt und strahlte so viel Lebensmut aus.

Begeistert von Gott

Nicht jedem geht es wie Emmanuel. Viele Menschen, die Ähnliches erleben mussten, sind bitter und seelisch zerstört. Und dennoch glaube ich, dass hier ein Geheimnis liegt: Wer Not erlebt hat, weiß zu schätzen, wenn es ihm gut geht. Die Generation meiner Eltern, die die Schrecken des zweiten Weltkrieges als Kinder erlebt hat, war einerseits zeitlebens traumatisiert, andererseits aber auch immer dankbar für die kleinen Dinge des Alltags: buchstäblich das tägliche Brot, um das wir bitten. Mich hat die Fluchtgeschichte meiner Mutter geprägt. Vertrieben, acht Geschwister verloren, vergewaltigt – und doch hat sie fünf Kindern das Leben geschenkt und war immer dankbar. Wie kann man das Elend aushalten? Indem man es nicht verdrängt. Und trotzdem weiß: Mitten im Elend gibt es Grund zum Tanzen. 

Nach ein paar Augenblicken der Stille gab Emmanuel eine Antwort: „So verrückt es klingt, nach dem Mord an meiner Familie wusste ich: Was könnte mir jemals noch Schlimmeres passieren?“ Er machte eine kleine Pause, bevor er fortfuhr: „Und weißt du, ich bin begeistert von meinem Gott. Jesus ist auferstanden – und ich freue mich jetzt schon darauf, den Rest meiner Familie im Himmel wiederzusehen.“ 

Was für eine Hoffnung! Das Elend der Welt ist manchmal kaum auszuhalten. Aber es wird nicht das letzte Wort haben. Das letzte, ewige Wort hat Gott. Und das ist allemal ein Grund zum Tanzen.